Die Initiierung der Sammlung aus dem Geist der deutschen Romantik

Auf einer Ausstellung bildender Kunst der Romantik vor etwa 10 Jahren in Großbritannien, wurde eine Linie gezogen von der deutschen Romantik zum deutschen Faschismus. Das Düstere, die Todessehnsucht, das Deutschnationale, das schwül-pathetische – es gibt sicherlich Züge in der Romantik, die diese Annahme rechtfertigen; in einer umfassenderen Sicht aber sind diese nur ein Nebenaspekt. Die eigentlichen Momente der deutschen Romantik sind meines Erachtens in den neopaganen, mediävistischen, pantheistischen, aber auch gegenreformatorischen, katholisch-restaurativen Strömungen zu sehen. Es ist in einem gewissen Sinne – und hier liegt meines Erachtens zu einem guten Teil Heines Begründet-Sein in der deutschen Romantik – auch eine Sehnsucht nach der ungeteilten Bejahung der Natur in Opposition zur Fletrierung dieser durch die augustinisch-christliche Tradition. So könnte man mit gewissem Recht behaupten, in der deutschen Romantik liege auch eine Renaissance paganer Volkskultur, die sich, unabhängig von dem Kanon der Kirchen, immer einen geistigen Freiraum bewahrt hatte. Auch die Märchen der Brüder Grimm stehen, lassen wir uns nicht von einigen wenigen Einfügungen sentimental-frömmlerischer Valeur täuschen, in ihrer unbedingten und ungeteilten Lebensbejahung in einem entschiedenen Gegensatz zur kirchlichen Doktrin.
In dem Abschnitt über die Textgenese der Grimmschen Märchen ist schon beschrieben worden, wie die Textsammlung aus einem von Clemens Brentano und Achim von Arnim beabsichtigten zweiten »Wunderhorn« Band enstand. Auch die Grimms waren zwar in diesem Umfeld, allein schon von Ihren Mentoren her, dem nationalen des romantischen Zeitgeistes verpflichtet. So wurde u.a. die häufige Herkunft der Erzählungen aus dem Französischen verschleiert: – aber dies, wie auch die der Biedermeierzeit zuzurechnenden Verniedlichungen, Einfügungen frömmlerischer und Abschwächung erotischer Szenen hat meines Erachtens kein wirkliches Gewicht. Die eigentlichen Gründe für die Vorliebe in der deutschen Romantik für Märchen oder auch andere literarische Formen der Volksliteratur wie Legenden, Sprüche, Anekdoten und Weisheitserzählungen sind darin zu sehen, daß sie sich in ihrer Betonung des Gefühls, des Intuitiven und Imaginativen, ihrer naturverbundenen Religiösitat und Sensualität ihrer fatalistischen Lebensbejahung aber auch ihren lustvoll grotesk-absurden Zügen in einem erholsamen Gegensatz zu der Verstandeseinseitigkeit, geistigen Starre, Bigotterie und Unwahrhaftigkeit der »offiziellen« Kulturgeschichte befand.



Warum sollte man es nicht sagen dürfen: Wilhelm Grimm war gegenüber seinem Bruder Jakob nicht nur was Umfang und Ausrichtung seiner Arbeit, sondern auch was seinen Anteil an der charakteristischen Ausformung der Märchen betrifft, die bedeutendere Persönlichkeit. Wilhelm Grimm erfüllte quasi, was man sich von einem letzten Tradenten dieser Volksliteratur erhoffen durfte:  Tiefe Intuition für Gehalt und Bedeutung der Urszenen der Märchenbilder, eine leidenschaftlich-persönliche Beziehung zu diesen Inhalten und nicht zuletzt – Sprachkraft und Stilsicherheit. Jakobs Interesse an den Collactaneen hatte später nachgelassen, nachdem er zunächst, auch als der ältere Bruder, größeres Engagement bei der Initiierung der philologischen Sammeltätigkeit und Kommentierung zeigte. Er wandte sich nach den Erstveröffentlichungen 1812 und 1819 mehr der Arbeit an dem Deutschen Wörterbuch zu; ein Werk von schier unermeßlichem Arbeitsaufwand, das auch Rilke z.B. noch als anregendes Kompendium diente.
Es war eher Wilhelm, der in der Entwicklung und den Ausfaltungen der Texte in der Folge der Auflagen von 1810 bis 1857 immer mehr den Märchenton fand, der die Kinder- und Hausmärchen Jacob und Wilhelm Grimm zu dem nach der Bibel erfolgreichsten Buch der Literaturgeschiche hat werden lassen.


Ein häufiger Vorwurf, der in neuerer Zeit den Märchen der Brüder Grimm gemacht wird, ist das Vorkommen von Schilderungen brutalsterGrausamkeit. Zweifellos, – Verstümmelungen, Feuertode, Ertrinken in Brunnen, von den wilden Tieren zerfleischt werden, sich selbst in zwei Teile reißen, Knochen brechen – in fast jedem Märchen gibt es Schilderungen dieser Art. Diese aber verlieren ihre brutale Anmutung, wenn Sie, und so geschieht es wohl auch in der Regel durch den nicht reflexiven Hörer, als Bilder innerseelischer Konflikte und Entwicklungen empfunden werden. Eine äußere Sicht der Märchenbilder benimmt Ihnen ihren tiefen Sinngehalt; übrig bleibt nurmehr die dann wirklich grausame Hülse des Bildes. Es ist, wie schon erwähnt, bezeichnend, daß in einer filmischen Umsetzung dieser Märchenbilder, durch den Wegfall der intuitiven inneren Bedeutungsebene und dem lediglichen Übrigbleiben einer äußeren Actionszene, in der Suspension der Bildsprache durch die Bildfläche also, die Grausamkeit so abgetrennt in den Vordergrund tritt, daß die Produzenten sich genötigt sehen, die Szenen abzuändern. So muß dann also z.B. in der Simsala Grimm Produktion, der Wolf unter Vollnarkose in einem Operationssaal der sieben Geißlein entledigt werden.
Auch den Grimms selbst wurde ja schon der Vorwurf gemacht, die Märchen seien oft zu grausam: Wilhelm Grimm sah sich unter anderen dem Vorwurf von Achim von Arnim gegenübergestellt, die Moritat »Wie die Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben«, wäre zu grausam und könne die Kinder zur Nachahmung anregen: Wilhelm konnte sich nur mit der Bemerkung rechtfertigen, daß doch auch seine Mutter ihnen das Märchen von dem Schlachten schon erzählt habe und daß es ihn gerade vorsichtig und ängstlich bei Spielen gemacht habe.
Es ist wohl meist das Mißverständnis, in den Bildern und Archetypen der Märchen äußere Bilder und nicht Figuren eines inneren Geschehens zu sehen, das die Grausamkeiten, entkleidet ihrer inneren Bedeutung, so »nackt« in den Vordergrund  treten lässt. Eine ähnliche Verkennung von mythischen Erzählungen ist in der
historisch-kritischen  Rezeption der Erzählungen des alten und neuen Testamentes zu sehen. Auch bei der Diminution dieser Texte auf ihre äußeren, historisch und rational verifizierbaren Momente, geht das Verständnis für den eigentlichen Gehalt, die bildhaften Darstellungen der menschlichen Existenz, verloren.


Das häufige Motiv der mißhelligen Stiefmutter die ihren Kindern nach dem Leben trachtet, das Bild der Hexe und der Erlösung der Heldin in den Armen ihres »Königs« – es gibt viele Bilder in den Märchen der Brüder Grimm, die in jüngster Zeit den Vorwurf der Misogynie, der Frauenfeindlichkeit provoziert haben. In der Tat: Obwohl Märchen in der Sammlung vorkommen in denen wie bei Allerleihrauh ein inzestuöses-mißbäuchliches Bedrängen des Vaters gegen die Tochter die Ausgangsszene der Geschichten bildet; – in der Mehrzahl haben die Erzählungen das Bild der durch die Stiefmutter am Leben gehinderten Tochter zur Grundlage.
Ich denke nicht, daß diese Tatsache mit einer misogynen Haltung der Tradenten und der Redaktoren zu erklären ist.  (dabei haben die Grimms ja noch, da ihnen das Bild der ihre eigene Tochter am Leben hindernden Mutter zu brisant war, noch die Stiefmutter eingeführt).
Es wurde ja schon beschrieben, wie sehr – bestätigt auch durch die schon erwähnte Untersuchung aus Pommern – die Tradenten, die Erzähler die Geschichten nach ihrer Empfindung ausgeprägt haben. Die Präferenzen und  Vorlieben der Erzähler haben sich so natürlich auch auf die Auswahl der Erzählungen ausgewirkt. Die fraglose Überrepräsentanz der Märchen mit einem Mutter-Tochter Plot; in den Collactaneen der Brüder Grimm bzw. auch deren größere Beliebtheit, ist so also vielleicht damit zu erklären, daß wie Professor Rölleke schreibt »das Märchenerzählen eine Domäne der Frauen war« , wie ja
auch die Zuträger der Grimms fast ausschließlich Frauen waren, und daß eben diesen die Mutter-Tochter Thematik eher am Herzen lag.

»Grimms Märchen gehen doch überhaupt nicht«, vertraute mir ein erfahrener Vertreter für Hörbücher auf der Frankfurter Buchmesse an.  Auch die Verkäufe selbst ambitionierter Lesebuchausgaben der Grimmschen Märchen lassen kaum vermuten, daß diese Sammlung immer noch als die meistübersetzte und auflagenstärkste deutschsprachige Literatur gelten kann. Stark angewachsen ist dagegen das Interesse an hermeneutischer Literatur über Grimms Märchen bzw. Märchen überhaupt. Es scheint, daß eine Generation, die noch mit diesen Geschichten wie mit lebenden Bildern aufgewachsen ist, in einer zweiten existenziell-psychologischem Rezeption (in einem vitalen Interesse,) einen weiten Bogen spannt, zu ihren ersten kindlich intuitiven Begegnungen mit den grundlegenden (eschathologischen) Fragen um Liebe, Tod und dem Sieg über die Angst.
Eugen Drewermann: »Alle Interpretantionsmethodik und Auslegungskunst
ist gut beraten, wenn sie sich an der selbstverständlichen, unbewußten Art der Märchendeutung, über die Kinder noch in ungebrochener Form verfügen, ein
verpflichtendes Beispiel nimmt. Die Tiefenpsychologie jedenfalls kann und will nichts anderes erreichen, als im Bewußtsein, mit wissenschaftlichen Mitteln, nachzuzeichnen, was unbewußt ein jedes Kind beim Hören eines Märchens tut: es erfaßt sehr genau, daß die Märchen, die Mythen, die großen Träume der Völker, seine eigenen Stimmungen, Gefühle und Konflikte darstellen und in irgendeiner Form beantworten. Das Kind vermagdie symbolische Sprache der Märchen und Mythen zu verstehen, weil es noch selber unbewußt in diesen Vorstellungen lebt;  die Tiefenspsychologie kann und muß versuchen, das Bewußtsein für die Inhalte des Unbewußten aufzuschließen und entsprechend die Märchen und Mythen zu deuten.«
Aber, wird man den Märchen mit einer deutend-analytischen Herangehensweise gerecht; verliert man dabei nicht seine Unschuld,entzaubert man mit hermeneutischen Überlegungen nicht das Eigentliche dieser Erzählungen, deren intuitiv erfahrbare Bildsprache, und benimmt ihnen damit ihre Intensität ?
Ich glaube, daß man durch eine rationale Beschäftigung mit den Sinngehalten von Märchenszenen und auch mythennahen Texten, nicht die Fähigkeit verliert, sich den Erzählungen wieder in einer intuitiven Weise, in womöglich noch stärkerem Maße hingeben zu können. Auch für mich als Sprecher ist es eine Bereicherung, aus einem erweiterten Hintergrund den Weg zurück zum Emphatischen machen zu können; auf jeden Fall aber will ich vermeiden, durch die Sprechgestaltung quasie wie mit dem Finger auf einen Gehalt zu weisen. In diesem Zusammenhang ist es auch aufschlussreich, anhand der Textausfaltungen und Veränderungen der Kinder- und Hausmärchen in den Ausgaben von 1810 bis 1857 versuchen nachzuempfinden, wie sehr die Grimms selbst, die Märchen auch deutend verstanden haben.
Ein herausragendes Instrument dabei, sich Märchen in hermeneutischer Absicht zu nähern, kann dadurch gegeben sein, wie Eugen Drewermann in seinem Buch »Tiefenpsychologie und Exegese« vorschlägt, abwechselnd eine sich gegenseitig durchdringende subjektale, objektale und phänomenologische Perspektive einnehmen zu können.
(…)
(Hier folgt noch eine Erläuterung des objektalen (Freudschen), subjektalen (Jungschen) und existenzialistisch-phänomenologischen Ansatzes)




»In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volkes. Hier offenbart sich all seine düstere Heiterkeit, all seine närrische Vernunft. Hier trommelt der deutsche Zorn, hier pfeift der deutsche Spott, hier küßt die deutsche Liebe.«(Heinrich Heine zu der Volksliedersammlung »Des Knaben Wunderhorn«)
In dem kurzen Zitat aus Heines romantischer Schule kommt sehr schön zum Ausdruck, was schon in dem Abschnitt über die Initiierung der Grimmschen Märchensammlung aus dem Klima der Deutschen Romantik mit einer Renaissance des Paganen, der Ablehnung des Verstandeseinseitigen, der Hinwendung zum Intuitiven, zum Gefühl, zu den »unverstellten Quellen der Imagination« und vor allen Dingen der ungeteilten, integrativen Auffassung von Mensch und Natur, Sinnlichkeit und Religiösität gesagt wurde. (Novalis:  »ich habe zu Söphchen nicht Liebe, sondern Religion«) Aber – welches Grundempfinden, welche
Prämissen, welches grundlegende Welt- und Menschenbild in der Volksliteratur steht dem Menschenbild der christlich-kanonischen abendländischen Kultur
gegenüber. Ich will, um diese Frage zu erörtern, etwas weiter ausholen.
Die sich konsolidierende römisch-katholische Kirche hatte in den ersten Jahrhunderten ihrer Entstehungszeit einen erbitterten Kampf gegen christlich-gnostische Gruppen geführt. Marcioniten und Valentinianer, Barbelognostiker, Manichäer und Ophiten; die Berichte der Haeresiologen geben ein beredtes Zeugnis dieser Ausgrenzung.  Adolf von Harnack hatte gar behauptet, daß »der Katholizismus gegen Marcion erbaut worden ist«. Bis heute sieht sich die Kirche mit Berufung auf den Schöpfungsbericht im positiven Gegensatz zu dem dualistischen Weltbild, der Weltverneinung der Gnostiker.  Auch der Philosoph Hans Blumenberg formulierte, daß »die Formation des Mittelalters nur als Versuch der endgültigen Absicherung gegen das gnostische Syndrom verstanden werden kann. Die Welt als Schöpfung aus der Negativierung ihres demiurgischen Ursprungs zurückzuholen und ihre antike Kosmos-Dignität in das christliche System hinüberzuretten, war die zentrale Anstrengung, die von Augustin bis in die Hochscholastik reicht.«
Und auch Odo Marquard spricht von dem gnostischen Rezidiv. (Rezidiv – ein Begriff aus der Medizin; er bezeichnet ein wiederkehrendes Krankheitsbild) Mit Augustin allerdings, so Marquard »führt das Desiderat der Entlastung des Schöpfergottes und seiner Welt im Mittelalter zur Erfindung und Fundamentalisierung der menschlichen Freiheit: sie wird – wo nachbiblisch nicht mehr in antiker Form die Materie es sein kann – post Christum natum et mortuum das große Alibi des Schöpfergottes: nicht ein böser Gott (der Demiurg) hat eine üble Welt geschaffen, die durch ihr Ende erlöst werden muß, sondern der freie Mensch hat seine Freiheit mißbraucht zur Sünde und dadurch die Welt verdorben, die gleichwohl – das kann daraufhin die Scholastik betonen –  die gute Schöpfung eines guten Gottes grundsätzlich bleibt, omne ens est bonum.«
Aber, ich meine –  die menschliche Freiheit bei Augustinus bedeutet doch lediglich, daß der Mensch nur soeben frei war schuldig zu werden, die Ursünde zu begehen; – ausgehend von dieser Ursünde war jeder Mensch doch in genealogischem Verhängnis als für von Geburt an sündig erklärt; er war nunmehr
doch unfrei, weil ethisch uneigenmächtig und abhängig von der Praädestination und der sola Gratia, der Gnade Gottes.

»Höre, Gott! Wehe über die Sünden der Menschen!  -Und das sagt ein Mensch, und du erbarmst dich seiner,denn ihn hast du erschaffen und hast nicht erschaffen die Sünde in ihm. Wer macht der Snde meiner Kindheit mich gedenk? ist vor dir doch keiner rein von Snde, auch das Kind nicht, das nur einen Tag lang auf der Welt ist.« (aus  den Bekenntnissen des Augustinus )
Vielleicht ist das bisher zu wenig gesehen worden: Der gnostische Vulgärdualismus, die Weltverneinung, wird hier in den Menschen selbst hineingetragen. Von da gibt es nur noch den Weg zum tiefen Unvertrauen in den Menschen, zur Abspaltung, Verteufelung und Befeindung elementarer Wesenheiten des menschlichen Naturells. Es ist immer fruchtbar, Nietzsches Empfehlung zu folgen und das Denken eines Philosophen oder Kirchenvaters in engem Zusammenhang mit seinem Leben zu betrachten: Sowohl Augustinus als auch des Augustinermönch Luthers Momente der Selbstverachtung, die verzweifelte Erkenntnis der eigenen moralischen Unfreiheit (allein schon sein eigenmächtig und ungefragt  sich aufrichtendes Glied war für Augustinus ein zwingendes Zeichen für diese) haben ihren Weg gefunden in Lehre und Dogma; sie sind die sehr persönlichen Schnittstellen eines Weltverhängnisses.
Es hat also meines Erachtens mit Augustinus, aber auch schon mit Paulus, mit dem Christentum eine Verlagerung der Zuordnung des Bösen von der Welt in den
Menschen gegeben. Auf die machtpolitischen Implikationen eines augustinischen Menschenbildes habe ich ja schon im Zusammenhang mit der Erwähnung Elaine Pagels hingewiesen. »Homo homini lupus«, der Mensch ist des Menschen Wolf; das später von dem englischen Philosophen Thomas Hobbes in seinem »Leviathan« pointiert dargestellte Szenario, der Mensch müsse, um überhaupt einigermaßen glücklich in Ruhe und Frieden leben und als Kulturschaffender in Erscheinung treten zu können, einen gut Teil seiner Freiheit einem Souverän übergeben, um nun in der Gemeinschaft von diesem beherrscht zu werden, ist ein beredter Nachklang des augustinischen Menschenbildes. Augustinus gehoörte etwa 10 Jahre lang den Manichäern an; einer schon stark kanonisierten und weitverbreiteten gnostischen Kirche. (Es bleibt noch zu untersuchen, wie sehr sich der strenge Dualismus der Manichäer, als ein archetypisches Moment des Unvertrauens, über Augustinus, Luther, Calvin und die folgenden protestantischen und reformatorischen Strömungen prägend auf
die US-amerikanische Gesellschaft ausgewirkt hat und über deren kulturelle Omnipräsenz wieder auf Europa zurückkommt.
»Jeder Mensch ist in sich verloren und ruiniert… Es besteht keine Gefahr, daß der Mensch sich zu tief erniedrigt, dadurch versteht er, daß er bei Gott all das suchen
muß, was ihm fehlt… Verflucht sei, wer dem Menschsein vertraut und seine Tugend auf das Fleisch baut. Wir sind berufen – nicht gemäß unserer Tugenden, sondern gemäß der Wahl und der Gnade Gottes.« Finsterstes augustinisches Menschenbild kommt in diesem Zitat Calvins zum Ausdruck.
Die Gnostiker der ersten 3 Jahrhunderte aber waren nie eine homogene religiöse Gemeinschaft. Das Spektrum reichte von Gruppen, die ihre Weltverachtung mit Riten der Verherrlichung von Unfruchtbarkeit zum Ausdruck brachten und die vielleicht in Ciorans »Vom Nachteil geboren zu sein« einen späten, koketten Nachklang (oder hier wirklich ein Rezidiv) erfahren haben, bis hin zu denen, denen die Weltverneinung nur ein existenzielles Bild, eine seelische Szene, eine innere Pro-vokation bot, um in einem eigenverantwortlichen existenziellen Prozess, quasi in einer gnostischen Kehre, das Leben erst eigentlich zu gewinnen. Das sind ambitioniertere Modelle, die, auch in ihrem hohen Anspruch an den Menschen, Analogien zu buddhistischen Wegen der
Individuation, zu der »Doppelbewegung« dem »Verzweifeln« und  dem »sich Wählen« des Sören Kierkegaard und eigentlich auch zu der Imago des Jesus
von Nazareth haben.
Gerade diese Gruppierungen der »hellen« Gnosis hatten als Gemeinschaft, und auch das zeugt so meine ich, von ihrem Vertrauen in den Menschen, eher freie,
anarchische, will sagen herrschaftsfreie Strukturen; Frauen hatten den gleichen Anteil wie Männer an Ritus und Gemeindeleben; es gab hier im Gegensatz
zur paulinischen Kirche keine Geschlechtszuordnung des Bösen; und so groß die Lust war, blühende mythologische Systeme zu phantasieren, der Hang zu
Dogmatisierung und Kanonisierung war gering, – und: selbst bei Projektionen der krassesten Weltnegativierung;  – der gnostische Dualismus und seine
»Zuordnung« des Malignen barg ja doch immerhin die Möglichkeit, den Menschen als Träger eines Pneumas des außerweltlichen guten Gottes zu bejahen; als
ein in dieser Verbindung begründet, vorgängig gutes Wesen, gefallen in eine feindliche Welt.
(…)
 »Groß bist du, Herr, und hoch zu preisen, und groß ist deine Macht und deine Weisheit unermeßlich. Und preisen will dich der Mensch, ein kümmerlicher Abriß deiner Schöpfung, ja der Mensch, der herumschleppt sein Sterbewesen, herumschleppt das Zeugnis seiner Sünde und das Zeugnis, daß du den Hochfährigen widerstehst. Und dennoch preisen will dich der Mensch, ein kümmerlicher Abriß deiner Schöpfung.«So beginnen die Bekenntnisse des Aurelius Augustinus. Im ersten Teil des Abschnittes zitiert Augustinus aus dem 2. Korintherbrief des Paulus. Hier begegnet uns die Tradition eines Bildes einer unüberbrückbaren Kluft zwischen Gott und Mensch. 

Der patriarchale Weltenschöpfer, dessen »Abriß der Schöpfung« durch eigene Schuld (genauer: durch die Schuld der Frau) aus dem omne ens bonum est herausgefallen ist, steht als strafendes Überich dem »Hochfährigen« unerreichbar gegenüber.
Der Mensch als »Sterbewesen« und »Träger des Zeugnisses seiner Sünde«, denn Tod und Sexualität sind Teil der Strafe, ist unfähig den malignen Anteilen in sich entgegenzustehen; selbst wenn er sich bemühte – er bleibt der unergründlichen Prädestination und Gnade (und ständigen Observation) des patriarchalen Gottes ausgeliefert.
Im »Antichrist« bringt Friedrich Nietzsche in einer leidenschaftlichen Luzidität zum Ausdruck, wie das Evangelium, die »Frohe Botschaft« der Imago des Jesus von Nazareth schon seine frühesten Nachfolger überfordete und von der Klerikernatur des Paulus in ein Dysangelium eskamotiert werden mußte. Der »Antichrist « Nietzsche offenbart sich hier – und das ist vielleicht noch nicht im verdienten Maße gesehen worden – als glühender Fürsprecher für eine wahrhaft christliche »Praktik«, für »ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte«.
Der Sohn eines protestantischen Pfarrers hatte in dem früh vaterlosen Haus unter der Ägide einer frommen Frauengemeinschaft von Tanten, Mutter und Schwester genug Wut im Leibe gesammelt, um zu erkennen: das Christentum, das diesen Namen ja eigentlich am wenigsten verdient, das »real existierende« Christentum, die Entselbstungsmoral »verrät einen Willen zum Ende , es verneint im untersten Grunde das Leben. «
(noch einmal Monnica, die Mutter des Aurelius Augustinus:)
»Mein Sohn, was mich anlangt, so hat nichts mehr Reiz für mich in meinem Leben. Was ich hier noch tue, warum ich überhaupt noch hier bin, ich weiß es nicht, da ich von dieser Zeitlichkeit nichts mehr erwarte. Eines nur war es, um deswillen ich noch ein Weilchen zu leben wünschte: Dich wollte ich als katholischen Christen sehen ehe ich stürbe. Überreich hat es mein Gott mir gewährt: als seinen Knecht darf ich dich sehen, da nun auch das Erdenglück dir nichts mehr bedeutet. Was tue ich noch hier?«    (aus den Bekenntnissen des Augustinus)
Es ist ebenfalls Nietzsches Verdienst, aufgezeigt zu haben, wie sehr die Lehre der Lebensverneinung und des Unvertrauens in den Menschen, der Psychologie ihrer machtvollen Apologeten zugrundeliegt und zu der Übersetzung des »ich gehe zugrunde« in den Imperativ »ihr sollt alle zugrunde gehen« drängt.
»Die versteckte Rachsucht, der kleine Neid Herr geworden! Alles Erbärmliche, An-sich-Leidende, Von schlechten-Gefühlen-Heimgesuchte, die ganze Gettho-Welt der Seele mit einem Male obenauf.- Man lese nur irgend einen christlichen Agitator, den heiligen Augustin zum Beispiel, um zu begreifen, um zu riechen, was für unsaubere Gesellen damit obenauf gekommen sind.« (Nietzsche zu Augustinus – »Der Antichrist«)
Vielleicht lässt sich alles auf die Grundfrage zuspitzen. Ist dem Menschen, gegeben durch schon früheste biographische Momente tiefer Empfindung, die
Bestätigung seines Naturells als die eines unbedingten Vertrauens widerfahren bzw. ist die verdrängte Empfindung des Vertrauens groß genug verblieben um
diese wiedergewinnen zu wollen.  Ein russisches Sprichwort, es ist mir nur vage aus den »Aufzeichnungen aus einem Totenhause« von Fjodor M. Dostojewskij in Erinnerung, lautet: »Aber er hatte doch auch eine Mutter.« Dieses Wort bezog sich auf die Mitgefangenen Dostojewskijs in der Katorga, die sich unvorstellbarster Verbrechen schuldig gemacht hatten. Es bringt zum Ausdruck, daß in der Beziehung Eltern – Kind eine wesenhaft-prinzipielle Möglichkeit liegt, die eigentlich in krassem Widerspruch zu den Verbrechen steht.
Wie sehr sich in unserer Kultur das propagierte Unvertrauen in den Menschen z.B. darauf ausgewirkt haben mag, wie Eltern ihren Kindern
gegenübertreten und so eigentlich wiederum die Fremdnatur des Unvertrauens schüren, will ich noch kurz behandeln.  Vorab noch einmal die schon zitierte Stelle aus den Bekenntnissen des Augustinus: »Wer macht der Sünde meiner Kindheit mich gedenk? ist vor die doch keiner rein von Sünde, auch das Kind nicht, das nur einen Tag lang auf der Welt ist Augustinus ist in mehreren folgenden Abschnitten bemüht, diesen Glauben zu belegen: das Kind schreit, zeigt früh einen Eigensinn, nutzt die elterliche Fürsorge aus usw., ist eigentlich per se schlecht, und bleibt es, wenn man es nicht von Anfang an, hierauf bedacht, entsprechend behandelt.  Keine Mutter aber dieser Erde die ihr kleines Kind in den Armen hielte, würde aus sich selbst heraus auf den Gedanken kommen, daß ihr Kind
a priori und wesenhaft sündig sei. Nur, wenn ihr dieser Gedanke im vorhinein aufgedrängt wird, wird Sie, entgegen ihrer Instinkte, eine künstliche Distanz
zu dem Kinde wahren. Die künstliche Distanz zum Kind ist ein Teil eines Grundklimas der Kultur des Unvertrauens in der abendländischen Geschichte. Die Überfremdung der elterlichen Instinkte durch eine unvertrauensvolle Ratio, durch einen Kanon des Unvertrauens, stößt das Kind in einen verzweifelten Gegensatz, eine unversöhnliche Fremdheit zu seinem archetypischen Selbst.
Noch in den 60 ger Jahren war ein Ratgeber und Erziehungsbuch für junge Mütter weit verbreitet, daß den Müttern gebot, ihr schreiendes Kind nicht aufzunehmen, wenn es keinen erkennbaren Grund des Schreiens gab; mit den landläufig bekannten Begrändungen, das Kind könne verwöhnt werden, nutze die Fürsorge späterhin aus und müsse überhaupt schon früh lernen, daß es nicht jeden Wunsch erfüllt bekomme. (die »Kräftigung der Lungen« und der Gedanke der Abhärtung seien nur nebenbei erwähnt). Mir sind einige Freunde und Bekannte begegnet, die nach den Empfehlungen dieses Buches »Die Mutter und ihr erstes Kind« von Frau Dr. Johanna Haarer, erzogen wurden. Daß dieser Titel schon zu Zeiten des Nationalsozialismus unter dem Titel »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« höchste Auflagen hatte und Dr. Johanna Haarer die NS-Pädagogin war, war entweder in Vergessenheit geraten oder stillschweigend akzeptiert worden. (in der ansonsten unveränderten Neuauflage aus den 60 ger Jahren waren lediglich Kapitel wie »Ich erzähle meinem Kinde von dem Führer« herausgenommen worden.)

In den Formen der Marienverehrung hat sich innerhalb der patriarchalischen Kirche doch noch eine weibliche Göttlichkeit, ein paganes Fruchtbarkeitsidol äußern
können. (Die Kirche hat es immer gut verstanden, Bilder und Riten anderer Religionen als heidnisch zu diskrikimieren, gleichzeitig aber diese populären Mytheme und Riten in ihren Kanon zu integrieren) Die Kirche konnte dies zulassen, war doch Jesus nach kirchlichem Dogma der Sohn Gottes und kein wesenhaft sündiges Menschenkind. Aber dieses Dogma geriet, besonders in der bildlichen Mariendarstellung der Renaissance in den Hintergrund. Es kam das Bild einer Mutter zum Vorschein, die größte Nähe zum Kind, Geborgenheit, eine unbedingte Annahme ausstrahlt und gleichzeitig mit freudig-gelassenem Vertrauen, die sich schon äußernde Eigenständigkeit und Absetzbewegung ihres Kindes beobachtet. In Teilen des existenzialistisch-nihilistischen Denkens ist oft die Rede von der »Katastrophe der Geburt«. In diesem Bild als der Erfahrung eines katastrophischen Sturzes aus vorgeburtlicher Geborgenheit in eine kontingente
Existenz, klingt auch das gnostische »Rezidiv« des »Falles« des pneumatischen Wesens Mensch in eine feindliche Welt wieder an.
In einigen Marienbildern aber scheint, wie eben schon angedeutet, ein anderes Lebensbild auf; die existenzielle Möglichkeit, aus einer elterlich vermittelten Empfindung der unbedingten Annahme und des unbedingten Vertrauens, das »Dazu«, die Reichhaltigkeit, Schönheit und Vielgestaltigkeit der
Welt entdecken zu können.
Noch sehr gegenwärtig sind mir meine Empfindungen nach der Geburt und in den ersten Jahren unserer Tochter. Da war zum einen der Eindruck des großen
Lebenswillens, des alles Sehen-, Berühren- und Hörenwollens, der unbehinderten Offenheit einer schon frühesten Persönlichkeit; das Bild des noch wackligen
Köpfchens, das sich mit großen Augen freudig-aufgeregt jeder Bewegung und jedem Klang um es herum zuwandte. Zum anderen wurde mir gewahr: die große
Verletzlichkeit, die unermeßliche Möglichkeit der Enttäuschung.
Niemals werde ich von der »Katastrophe der Geburt« sprechen können; das aber war mein Empfinden: die Existenz kann zur Katastrophe, zum
lebenslangen Grundempfinden des Unvertrauens, zur bodenlosen Kontingenz und Haltlosigkeit führen, wenn dem Kind nicht von Anfang an, in der Zeit seines
Überganges, sei es aus rationaler Überfremdung der Instinkte oder sozialen und persönlich-psychologischen Verhinderungen, ein kontinuierliches Gefühl der vorbehaltlosen Annahme und Geborgenheit, aber auch gleichzeitig das der Freude und des Respekts über seine Freiheit, seine Eigenständigkeit und frühesten
Persönlichkeit entgegengebracht werden kann. )
Ich möchte in diesem Zusammenhang einen längeren Abschnitt aus dem Text »Ich habe dich unter Schmerzen geboren« – Zur Psychologie der Mutter-
Kind-Bindung« des Züricher Psychoanalytikers Andreas E. Benz zitieren:
»Die Beziehung der Mutter zu ihrem neugeborenen Kind ist aber nicht nur durch ihre eigene Geschichte und die Realität zur Zeit der Geburt geprägt, sondern auch von kulturellen Vorstellungen über die »Natur« des Neugeborenen. In Europa herrschte lange die Vorstellung vor, das Neugeborene sei zwar körperlich, genetisch durch Vater und Mutter geprägt, – (…) psychisch und kulturell jedoch wird es gemeinhin als unbeschriebenes Blatt erlebt, auf dem die Eltern ihre Erziehungshandschrift, ihre Prägung anbringen. Das Kind ist Wachs in den Händen der Eltern, die die Verantwortung tragen für die Form, die entsteht. Anders jedoch in Afrika, wo winw der esten Aufgaben der Eltern darin besteht, die »Natur« des Kindes zu erkennen, das heißt zu spüren, woher es kommt, welche Ahnenseele sich in ihm verkörpert hat. Gelingt es denEltern nicht, die »Natur« des Kindes zu erkennen, was sich häufig in der richtigen Namensgebung niederschlägt, könnte es sein, daß sich das Neugeborene auf dieser Erde nicht angenommen fühlt und wieder in ein »Jenseits« zurückkehrt. Wesentlich für
diese verschiedenen kulturellen Vorstellungen ist, inwieweit bereits das Neugeborene als vollwertiger Interaktionspartner der Eltern, als eigene Persönlichkeit gilt. (Auch) die Psychologie des 19. und auch des 20. Jahrhunderts unter Einschluss der Psychoanalyse sah im Säugling lange Zeit vor allem ein »unreifes«, »bedürftiges« und »abhängiges Wesen; erst seit kurzem revidiert die moderne Baby-Watch-Forschung von Davis Stern dieses Bild zugunsten eines viel reiferen, kompetenteren und komplexer ausgestatteten kleinen Menschen, der von früh an die Beziehung zur Mutter durch seine Eigenart aktiv mitgestaltet.
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 Die »düstere Heiterkeit«, »seine närrische Vernunft«, »hier trommelt der deutsche Zorn, hier pfeift der deutsche Spott, hier küßt die deutsche Liebe.« – Der
Romantiker Heine suchte Erholung in der Athmosphäre des »Tacheles reden«,des unverstellten Blickes der Volksliteratur.
Ich will nun einige Beispiele aus den Märchen der Brüder Grimm anführen, die die Sphäre und das Denken der Volksliteratur als einen Freiraum beleuchten. Die
Lebenssphäre eines freien Geistes, in dem Denken und Empfinden ihre Identität bewahrt haben, wo ein instinktives Wissen um die »letzten Fragen« auf dem Boden eines unbedingten Grundvertrauens in den Menschen in leidenschaftlichen Bildern zum Ausdruck kommt. Allein schon die Möglichkeit des eigenverantwortlichen Erlösungsweges,  einer »Wiedergeburt«, aufgezeigt in den Bildern der Märchen, steht in krassem Gegensatz zu der Prädestinations- und Gnadenlehre der katholisch-protestantischen Tradition. Die Muster der existenziellen und das heißt auch religiösen Eigenverantwortlichkeit vor dem Hintergrund einer archetypischen Lebensbejahung, die in der Volksliteratur ihren Ausdruck finden, haben Analogien eher im Buddhistischen, in den hellen Ausprägungen der Gnosis, den Haeretikern und Ketzergruppen der christlichen Tradition und bei Dichterphilosophen wie Kierkegaard, Hölderlin, Nietzsche, Heine oder Dostojewskij.
In der frühen Fassung des Märchens »Der Gevatter Tod« zeigt der Vater der 13 Kinder eine erfrischende Respektlosigkeit gegenüber dem »lieben Gott«. Auf dessen gönnerhaftes Angebot, das 13. Kind »glücklich zu machen auf Erden«, lehnt der Vater Gott ab, mit den Worten: »ich will dich nicht zu Gevatter, du gibst
den Reichen und läßest die Armen hungern« und »ließ ihn stehen«. Das demütigende »ließ ihn stehen« ersetzte dann Wilhelm Grimm, wie schon erwähnt, mit der
bemühten Theodizee: »dies sagte der Mann, weil er nicht wußte wie weislich Gott Wohlstand und Reichtum verteilte.»
Wilhelm Grimm ersetzte also ein volksnahes Moment der Distanz zu einem patriarchalisch-gnädigen Gott mit einem, in Bezug auf das Materielle, schon ins Calvinistische reichenden Erklärungsmuster der Prädestinations- und Gnadenlehre. Aber – wie bei so vielen Abschwächungen und Abwandlungen der Grimms, so auch hier: das eigentliche Klima, der geistige Hintergrund der Erzählung bleibt davon unberührt. In dem Falle des »Der Gevatter Tod« ist dies die Zyklische Weltsicht, die in dem »Höhlenbild« des Märchens sehr schön zum Ausdruck kommt:
»Der Tod, als er sich zum zweitenmal um sein Eigentum betrogen sah, ging mit langen Schritten auf den Arzt zu und sprach: ,Es ist aus mit dir, und die Reihe kommt nun an dich, packte ihn mit seiner eiskalten Hand so hart, daß er nicht widerstehen konnte, und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Da sah er, wie tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten wieder auf, also daß die Flämmchen in beständigem Wechsel zu sein schienen. Siehst du, sprach der Tod, das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in ihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch auch Kinder und junge Leute haben oft nur ein kleines Lichtchen. – ,Zeige mir mein Lebenslicht, sagte der Arzt und meinte…?
Die  Weltsicht des Zyklischen in diesem Bild steht in seiner Verwandschaft zu indischen, paganen und naturreligiösen Auffassungen, in einem elementaren
Widerspruch zu dem teleologischen  Geschichts- und Weltbild des kanonischen Christentums. Der Lehre der Zielgerichtetheit der Geschichte, ihrer Einmündung
in das Reich Gottes, der Lehre vom jüngsten Gericht, der Vergeltung und dem erst-eigentlich-Jenseitigen, steht in diesem Märchen die zyklische Empfindung
gegenüber; und auch in der Akzeptanz, ja Bejahung des Todes als ein Komplementär des Lebens, in dem Bild des Eingebunden sein in ein ewiges Werden und Vergehen steht die Grundempfindung des Märchens dem kanonischen Christentum gegenüber, das den Tod als Folge der Sünde, als Kollektivstrafe, als Rache
Gottes begriff. (Auch die unschickliche, unanständige Hybris des ewig-leben-wollens der christlichen Kultur, die sich von dem Jenseitsglauben in die zeitgemäß-positivistisch eingefrorenen Köpfe der amerikanischen Survivel Institute übersetzt hat, steht hier im Gegensatz zu der Akzeptanz, oder besser Bejahung des Todes, vor dem Hintergrund der zyklischen Empfindens.) Noch einmal kam die populäre Erwartung eines Messias in den Vordergrund; ein historischer Augenblick wurde ins Auge gefaßt: das »Reich Gottes« kommt zum Gericht über seine Feinde … Aber damit ist alles mißverstanden: Das Reich Gottes als Schlussakt, als Verheißung! Das Evangelium war doch gerade das Dasein, das Erfülltsein, die Wirklichkeit, dieses »Reichs« gewesen. Gerade ein solcher Tod war
eben dieses »Reich Gottes«.  (aus: Friedrich Nietzsche – »Der Antichrist«)

Die Banalität und Billigkeit der Projektionen des Jenseitigen in der christlichen Tradition, auch als Folge einer äußeren Sicht von Bildern eines inneren Geschehens, mit den Drohgebärden des Fegefeuers, den Verheißungen der Himmelfahrt und -tür usw., wird in dem Märchen »Der Meisterdieb« respektlos lebendig glossiert:
»…da stieß der Küster den Pfarrer an und sprach: es wäre nicht übel, wenn wir die Gelegenheit benutzen und vor dem Einbruch des jüngsten Tags auf eine leichte Weise in den Himmel kämen. Freilich,  erwiderte der Pfarrer, das sind auch meine Gedanken gewesen; habt ihr Lust, so wollen wir uns auf den Weg machen. Ja, antwortete der Küster, aber ihr, Herr Pfarrer habt den Vortritt, ich folge nach. Der Pfarrer schritt also vor und stieg auf die Kanzel, wo der Meister den Sack öffnete. Der Pfarrer kroch zuerst hinein, dann der Küster. Gleich band der Meister den Sack fest zu, packte ihn am Bausch und schleifte ihn die Kanzeltreppe hinab: so oft die Köpfe der beiden Thoren auf die Stufen aufschlugen, rief er jetzt gehts schon über die Berge. Dann zog er sie auf gleiche Weise durchs Dorf, und wenn sie durch Pfüzen kamen, rief er jetzt gehts schon durch die nassen Wolken, und als er sie endlich die Schloßtreppe hinaufzog, so rief er jetzt sind wir auf der Himmelstreppe und werden bald im Vorhof sein. Als er oben angelangt war, schob er den Sack in den Taubenschlag, und als die Tauben flattertem, sagte er hört ihr wie die Engel sich freuen und mit den Fittichen schlagen. Dann schob er den Riegel vor und ging fort.«
In Gegensatz zum vulgären Gut-Böse Dualismus des Christentums, der ja letztlich auch immer eine Zuordnung des unwiderstehlich Bösen auf bestimmte Menschen, Gruppen oder Völker intendiert, steht auch die Weisheit des Märchens »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«.
»Das Böse« in Gestalt des Teufels ist hier eine Instanz, von der der Jüngling die für den Erfolg seiner Reise entscheidenden Weisheiten erfahren kann. Eine vermittelnde Kraft, die Ellermutter des Teufels (»Was willst du? sprach sie, sah aber gar nicht so böse aus.  … «) entlockt dem Teufel mit ihren Traumerzählungen die drei Weisheiten von dem trockenen Brunnen, dem unfruchtbaren Baum und dem Fährmann der immer hin und her fahren muß und nicht abgelöst wird. Die Ellermutter aber muß dabei den immer wieder wütend auffahrenden Teufel beruhigen. Sie tut dies, welch ein Bild tiefen Wissens, indem sie ihn lausend besänftigt.
Auch viele andere Märchenbilder, wie z.B. das des dreimaligen Abstiegs zu den Itschen (den Kröten) in »Die drei Federn«, vermitteln, oder besser, bringen dem Zuhörer zur Empfindung, daß ein erfolgreicher Lebens-Weg nur möglich ist, wenn man furchtlos das »Untergründige« aufsucht, die Weisheit dieses Untergründigen erfährt, statt dieses zu verdrängen und abzuspalten.
(…)

 Möglicherweise ist es wichtig für eine aurale Intensität und Integrität, daß der Sprecher eine gewisse Verwandschaft zu dem Typus des Tradenten aus der untergegangenen Kultur der auralen Überlieferung hat. Bei aller Vorsicht: Etwas Einzelgängerisches, dem Sozialen zumindest zeitweise Entfallenes, Enthobenes, die Andeutung einer schamanistischen Prägung muß womöglich diesem Vermittler zueigen sein; und es darf ihm vielleicht nicht völlig fremd sein, was Kierkegaard mit den Worten beschrieb:
»Es gibt zwei Gedanken, die so frühzeitig in meiner Seele gewesen sind, daß ich ihr Entstehen eigentlich nicht nachweisen kann. Das erste ist: daß es Menschen gibt, deren Bestimmung es ist, geopfert zu werden, damit die Idee hervortreten kann – und daß ich durch mein besonderes Kreuz ein solcher bin. Der andere Gedanke ist der, daß ich nie in die Lage kommen würde, für mein Auskommen zu arbeiten, teils weil ich meinte, ich würde sehr jung sterben, teils weil ich meinte, daß Gott in Anbetracht meines besonderen Kreuzes mir dies; Leiden und diese Aufgabe ersparen würde. Woher man solche Gedanken hat, ja, das weiß ich nicht, angelesen habe ich sie mir nicht, auch habe ich sie nicht von einem anderen Menschen.«
Ein überzogener Ansspruch, eine anachronistische Anmaßung und Regression, eine Anmutung die eher Unbehagen hervorruft? – aber-,  der Typus des Tradenten, (oftmals identisch mit dem Schamanen und dem »Seher«) , suchte sich seine Rolle ja nicht aus, er wehrte sich ja zunächst gegen die Last einer »Berufung«, er war ja selber überrascht über diesen Weg; – noch einmal Nietzsche: »Seltsam! Ich werde in jedem Augenblick von dem Gedanken beherrscht, daß meine Geschichte nicht nur eine persönliche ist, daß ich für viele etwas tue, wenn ich so lebe und mich forme und verzeichne: es ist immer als ob ich eine Mehrheit wäre und ich rede zu ihr traulich-ernst-tröstend.?