Ein Verlag als künstlerisches Projekt*

(… und gesellschaftliches Experiment)

Im Zusammenspiel einer Hörbuch-Kultur nach den Merkmalen ›mündlicher Überlieferung‹, einem Buchprogramm, öffentlichen Veranstaltungen und dem Umfeld eines Künstlerkreises entwickelte sich der onomato Verlag als Beispiel einer Form der Tradierbarkeit, einer offenen Überlieferung und Erinnerungskunst. Er ist damit auch ein gesellschaftliches Experiment im Kleinen.

Durch eine Hörbuch-Kultur, die am Ältesten, an Qualitäts-Merkmalen der ›oral tradition‹ anknüpft, scheint es möglich, Stimmen, die dem Namen nach bekannt aber kaum mehr ›in Gebrauch‹ sind, wieder erfahrbar zu machen und für das Leben zu gewinnen. Die Vortragenden entsprechen dabei eher dem Bild von Tradentinnen und Tradenten, die kraft persönlicher ›Wieder-Holung‹ und Anverwandlung eine wirksame Vermittlung leisten.

Aus dem anfänglich reinen Hörbuchprogramm entwickelte sich nach diesem Charakter auch ein Buchprogramm. Ein Verweiszusammenhang begann sich abzuzeichnen: Linien und Resonanzen in der offenen Form einer Überlieferung, im Paradox von Tradierbarkeit und Unabschließbarkeit des Denkens.

Wohlgemerkt: Nicht eine Programmatik zeichnet sich hier ab, sondern das Beispiel einer ›Tradierbarkeit‹, wie sie Walter Benjamin mit Blick auf Kafka als eine Weiterentwicklung von Tradition in der Moderne charakterisierte. „Kafka“, so Benjamin, habe „die Wahrheit preisgeben müssen, um die Tradierbarkeit zu retten“.

›Preisgeben‹ bedeutet hier nicht, ›aufgeben‹, sondern hervorheben und ins Offene stellen. Die Unabschließbarkeit des Denkens ist das Unhintergehbare in der pluralen Form einer Überlieferung, aus der aber gleichwohl etwas wie eine ›Musikalität‹, der Sinn-Horizont eines nun gleichsam „offnen Meers“ (Nietzsche) erwachsen könne. Hannah Arendt beschreibt das fruchtbare Paradox einer offenen wie auch aktiven Überlieferung in einem Essay zu Benjamin:

„Walter Benjamin wußte, daß Traditionsbruch und Autoritätsverlust irreparabel waren, und zog daraus den Schluß, neue Wege für den Umgang mit der Vergangenheit zu suchen. In diesem Umgang wurde er Meister, als er entdeckte, daß an die Stelle der Tradierbarkeit der Vergangenheit ihre Zitierbarkeit getreten war, an die Stelle der Autorität die gespenstische Kraft, sich stückweise in der Gegenwart anzusiedeln. (…) An die Stelle des verpflichtenden Wahren trat das in irgendeinem Sinne Bedeutende, Sinnträchtige; und dies hieß natürlich, wie Benjamin genau wußte, daß die »Konsistenz der Wahrheit … verlorengegangen ist. (…) ‚Wahrheit’, sagt er, kurz bevor ihm der unheilbare Traditionsbruch und Autoritätsverlust voll ins Bewußtsein trat, ‚ist nicht Enthüllung, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung die ihm gerecht wird.’”

Eine Tradierbarkeit in diesem Sinne bedarf einer Gestaltung, Formen, einer ›sozialen Plastik‹, oder, wie in diesem Fall, einer Verlagsarbeit – die das ›Archiv‹ lebendig werden lässt und den Menschen nahebringt. In diesem Sinne baut der onomato Verlag sein Programm weiter aus.

Eine neue Form von Überlieferung in der Moderne

Die Ausprägung einer neuen Überlieferungskultur ist ein Grundmotiv unserer Verlagsarbeit. Mit seinen Büchern und Hörbüchern, dem Aufschein eines Verweiszusammenhangs, einer Kultur des Laut-Lesens in der Nachfolge mündlicher Überlieferung und dem Umfeld eines Künstlerkreises, erscheint der onomato Verlag als Experiment in der Erprobung einer neuen Form von Tradierbarkeit. Es ist der Versuch zur Gestaltung einer Erinnerungskunst als Form einer gleichermaßen tragenden wie offenen ›Wiederholung‹. Es ist die Leidenschaft, in einer ›offenen Dialektik‹ zu einer sinnstiftenden Nachhaltigkeit des Geistes beizutragen.

Es hat sich so ergeben: Dass es bei unserer Arbeit letztlich um Sinnstiftung geht. Das Belächeltwerden eines solchen Beweggrunds scheint verständlich. Man denke aber nur einmal an die Sehnsucht fast, die sich in der Karriere eines Begriffs wie Nachhaltigkeit ausdrückt: In der Beschleunigung allenthalben gilt es noch etwas zu erfassen.

In der Ausprägung einer Erinnerungskunst scheint es uns möglich, langlebige Unterströmungen, quer zu den gewohnten Zuschreibungen, nachzuvollziehen, eine gewissermaßen „ruhende Erkenntnis“ des menschlichen Geistes zu vergegenwärtigen, Vorgängiges mit dem Aktuellen kurzzuschließen, Vorarbeiten aufzunehmen, neu zu gestalten und sinnlich erfahrbar zu machen.

Wir knüpfen damit an Persönlichkeiten an wie etwa Hannah Arendt und Walter Benjamin. Nach der Überwindung der autoritativen Traditionen, so deren Hinweis, bedürfe es „neue[r] Wege für den Umgang mit der Vergangenheit”(Arendt). Essentielle Momente des Zusammenlebens, eine ethische Musikalität etwa, ein übergreifendes Sinngefühl, ja Ermutigung (Hölderlin), erwachse aus poetischer Erinnerung. Benjamin spricht von der Zitierbarkeit, Franz Kafka von einer neuen Kaballa (Im Wortsinn Überlieferung). Auch Wittgenstein beschreibt Ethik als transzendental, als Nachklang poetischer Perspektiven im Verhältnis zum Unerklärlichen. 

Traditionen und Momente aus allen Zeiten und Kulturen können erinnert, analogisiert, in Beziehung gesetzt und zur eigenen Entwicklung herangezogen werden. „Unsere ganze Existenz“, so Musil, „ist nur eine Analogie.“ Niemals wieder würde eine Schrift, eine sola scriptura, den Blick verstellen. Das bedeutet keinesfalls die Verleugnung der regionalen, familiären und religiösen Atmosphären, sondern deren Verlebendigung in der freien Wiederholung, Bezugnahme und Selbstverständigung: „Darum ist der Güter Gefährlichstes, die Sprache, dem Menschen gegeben … damit er zeuge, was er sei …”(Friedrich Hölderlin)

„Wohin ist Gott… haben wir denn das Meer ausgetrunken?” Der besorgte Ausruf Nietzsches ist ja zugleich Auftakt des freien Geistes: „…endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚offnes Meer‘” 4.

In der Aufnahme des Ältesten, der oral tradition – wir sprechen auch von einer auralen Überlieferung – erscheint die Kultur des Laut-Lesens nach dem Bild der Tradenten mündlicher Überlieferung. Kraft einer persönlichen Durchdringung im langen Umgang mit den Inhalten, geben die Sprecherinnen und Sprecher die Texte wieder und machen sie so oft erst erfahrbar: „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden – kurz, die Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft: alles das also, was nicht  geschrieben werden kann”5.

Die Wiederaufnahme einer ›auralen Überlieferung‹ ist aber auch prägend für die offene, plurale Form einer Tradierbarkeit. Die Tradentinnen und Tradenten der mündlichen Überlieferung kannten keine Werktreue. Im Umgang mit dem Überkommenen fühlten sie sich frei, die Erzählungen nach ihrem Geschmack umzubilden oder auszumalen. Der unbedingt Einzelne, die radikale Individualität – hier liegt der immerwährende Augenblick der Unabschließbarkeit in einem kollektiven Gedächtnis, die immer wieder freie Perspektive in der Überlieferung zu dem, „was sich niemals allgemein feststellen läßt, sondern immer wieder von jedem Leser oder Hörer von neuem zugegeben oder geleugnet werden muß”6.

Andererseits: Bilder und Erzählmuster, die Atmosphäre und der Beweggrund der Erzählungen haben sich über Jahrtausende und quer zu allen Kulturen erhalten. In diesem Paradox – oder vielmehr Komplement von Freiheit und Beständigkeit, Unabschließbarkeit und Gewissheit, scheint die Methode einer neuen Form der Überlieferung auf. Eine Methode, die in der Poesie selbst begründet liegt.

So sucht eine poetische Methodenlehre des Unbekannten, beschrieben von Simone Weil, Wittgenstein und Kafka, sich eines Grundes zu versichern, ohne ihn festzustellen, sich dem Unzerstörbaren (Kafka) zu nähern, sich mit dem gewissermaßen heiteren Paradox einer offenen Gewissheit in Verbindung zu setzen, sie doch zumindest zu erkunden, oder, mit einem Wort Michel Foucaults, im Sinne einer offenen Dialektik, ein positives Unbewusstes des überall bereit liegenden Wissens zu enthüllen.

 

So trifft sich Kierkegaard in Der Liebe Tun, „Was in seinem ganzen Reichtum wesentlich unerschöpflich ist, das ist auch in seinem geringsten Tun wesentlich unbeschreibbar, eben weil es wesentlich ganz zugegen ist, und wesentlich nicht beschrieben werden kann”, mit Walter Benjamin, „Wahrheit ist nicht Enthüllung, die das Geheimnis vernichtet, sondern Offenbarung, die ihr gerecht wird” – und findet ebenso eine Entsprechung im Kafka´schen Komplement von Gewissheit und Unabschließbarkeit des Denkens: „Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären; da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.” (W. Benjamin)

In einer Methodik und Kultur des universal-poetischen Denkens scheint die Möglichkeit einer freien, kosmopolitischen Form der Vergewisserung auf, die in ihrem Verhältnis zum Unerkennbaren auch religiöse Strömungen und Gefühle zu integrieren versteht.

In der Ausprägung einer solchen Erinnerungskunst ist der onomato Verlag wohl eher ein Experiment als ein Wirtschaftsunternehmen; beinahe unbeabsichtigt hervorgegangen aus einer Passion für die Dinge … – und nun verfolgen wir mit Interesse, was es auch für eine unternehmerische Kultur bedeuten mag, mehr von den Dingen selbst auszugehen.

Hier entsteht, auch in der Nähe zu dem onomato Künstlerkreis, eine Form, bei der die Mentalität des Wirtschaftens Teil der künstlerischen Ausprägung ist. Die Zusammenarbeit in der Verflechtung von Künstlergruppe, Familienbetrieb und Wahlverwandtschaften zur Ausprägung einer neuen Erinnerungskunst und Überlieferung mag in diesem Sinne als eine soziale Plastik, mag selbst als ein künstlerisches Projekt verstanden werden.

So verstehen wir die Herausgabe unserer Hörbücher und Bücher, nunmehr auch die Gestaltung verbindender Formen wie bei der ›Bibliothek kepos‹, im Sinne einer neuen, ermutigenden, sinnstiftenden – auch besänftigenden – Überlieferung.

1  Hannah Arendt: Walter Benjamin, Essay, 1968/1971  /  2  Der Titel eines Gedichts von Friedrich Hölderlin  /  3  Friedrich Hölderlin  /  4  Friedrich Nietzsche, Aus: Die fröhliche Wissenschaft  /  5  Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlass  /  6  Franz Kafka, Aus einem Brief an Felice Bauer  /  7  Franz Kafka, Aus den Zürauer Aphorismen

Nachhaltiger Hedonismus

Prägende ›Relikte‹ des Verlags, wie die eigenhändige Herstellung der Hörbuch-Verpackungen, bleiben erhalten. Sie repräsentieren nach wie vor die Entsprechung von Beweggrund und Produktionsweise. Das ›ganz Andere‹ der gesamten Ausrichtung spiegelt sich in der Handarbeit und bibliophilen Anmutung.

Der Verlag erscheint so auch als ein gesellschaftliches Experiment im Sinne einer neuen Ausrichtung beim Beweggrund zur Arbeit. Das Motiv der Leidenschaft als sinnerfüllte Teilnahme ist eine reale Perspektive. Mit dem Begriff ›Idealismus‹ wäre der intrinsische Charakter nicht ganz erfasst. Die aus der Verbindung zu den Sachen selbst sich ergebenden und von daher auch anhaltenden Kräfte, die Erfüllung von Leidenschaft und der Genuss eines größeren „Bogen des Lebens“ könnte eher als ein ›nachhaltiger Hedonismus‹ beschrieben werden. Als Erprobung auch im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel, bei dem eine Befreiung von mechanischer Arbeit sich ankündigt, der einhergehende Freiraum allerdings wohl eher als Angst erfahren werden wird. 

Es ist zu hoffen, dass, neben der Aufmerksamkeit für die Gefahr des Verlusts der ökologischen Lebensgrundlagen, auch ein Sinn für den Verlust der poetischen Lebensquellen erwachse. Ist doch poetische Kultur nicht lediglich ein ›Überbau‹, sondern Essenz und sublime Form zur Bildung von etwas so schwer fassbarem wie ›Musikalität‹ und Herzensbildung – und somit substanziell für eine Gesellschaft und Weltgemeinschaft.