Erinnerungskunst?
Paradox einer Überlieferung
Fragen zur Tradierbarkeit in der Moderne
Ein Kunstprojekt mit Vortragsvideos
und kostenlosen Medien (2 eBooks, ein Hörbuch sowie ein pdf).
Als Hinführung zu öffentlichen Veranstaltungen und Gesprächen in der Nach-Corona-Zeit.
Alle Musiken auf den Videos und den kostenlosen Medien von keit-projekt.
Einführung zur Videoreihe
Erinnerungskunst
Paradox einer Überlieferung in der Moderne
Die Frage nach einer Überlieferung in der Moderne berührt das Paradox einer Unabschließbarkeit des Denkens im Verhältnis zu einer Gewissheit.
(1) Kafka mußte die Wahrheit preisgeben, um die Tradierbarkeit zu retten …
Ausgehend von diesem Satz Walter Benjamins über Franz Kafka, gehe ich Hinweisen einer Integration des Paradoxes als Teil einer Methodenlehre bei Kafka nach.
Mit Die Wahrheit preisgeben … ist wohl keine Absage einer Wahrheitsmöglichkeit gemeint. Vielmehr bedeutet ›preisgeben‹ hier, den Augenblick von Wahrheit ins Offene stellen. Nach dem Bedeutungsverlust der kanonischen und festverfügten Wahrheiten in den großen Traditionen, geht es so Benjamin, Kafka darum, auf der offenen Bühne des Geistes und getragen vom unbedingt ›Einzelnen‹ eine nunmehr offene Tradierbarkeit zu ermöglichen …
(2) … Diese ganze Litteratur ist Ansturm gegen die Grenze … (Franz Kafka)
Ein Stück aus Kafkas Tagebüchern mit beinahe schon programmatischen Hinweisen zu einer Überlieferung in der Moderne, einer »neuen Geheimlehre, einer Kabbala« in Kafkas Worten, führt weiter zum Komplement von »zügellosester Individualität …« (Kafka) und kulturellem und so auch kollektiven Gedächtnisses. Kafka erscheint hier beispielgebend für weitere Stimmen, denen nach dem Bedeutungsverlust der kanonischen Formen und gleichsam im Auge der Großkatastrophen der Moderne in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts, eine neue Form von Überlieferung besonders dringlich schien.
(3) … glauben, daß das Unbegreifbare trotzdem erscheint, undzwar verborgen. (Simone Weil)
Mit einigen Auszügen aus dem Werk der französischen Philosophin wird die Methodenlehre Kafkas weitergeführt. Auch bei Weil ist der Ausgangspunkt die Annahme der menschlichen Grundbegabung zur substantiellen Erfahrung an der Grenze des Wissens. Die Perspektive einer universalen Menscheitlichkeit, abgeleitet aus dem anthropologischen Motiv dieser Begabung findet bei Weil einen weitergehenden Ausdruck.
(4) Ludwig Wittgenstein: Es gibt allerdings Unaussprechliches. Es ist das Mystische.
Mit Auszügen aus dem einzigen zu Lebzeiten erschienen Buch Wittgensteins, der Logisch philosophische[n] Abhandlung, wird die Methodik nach dem anthropologischen Verständnis von Weil und Kafka weiter ausgeführt. Mit dem vielzitierten Satz »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« betont auch Wittgenstein eine Grenze des Wissens und vor allem den Bedacht vor einem falschen sprachlichen Zugriff. Gerade in Anerkennung der Grenze aber mißt auch Wittgenstein dem Menschen eine besondere Erkenntnisweise als Ergänzung oder Komplement zum logisch-sprachlichen Zugang zu: Das Unaussprechliche […] zeigt sich. Mit Wittgenstein, der wohl kaum im Verdacht eines Mystagogen steht – im Gegenteil, er wurde, schon ausgehend vom Wiener Kreis, Bertrand Russel und der analytischen Philosophie, zur Gallionsfigur eines positivistischen Rationalismus gemacht – mit Wittgenstein können wir mit Blick auf eine Tradierbarkeit den Begriff und das Verständnis einer mystischen Perspektive als ein anthropologisches Grundmotiv wieder gewinnen. Stärker als bei Weil und Kafka rückt nun bei Wittgenstein die Frage nach eine ethischen Musikalität in Verbindung mit der Kultur einer mystischen Perspektive in den Vordergrund: Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen läßt, die Ethik ist transzendental.
(5) Hannah Arendt. Überlegungen zur ›ethischen Musikalität‹
»Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen läßt, die Ethik ist transzendental«. Der Satz von Ludwig Wittgenstein führt zur Frage, wie eine Ethik in der Moderne überhaupt noch denkbar und auszuprägen sei. Eine Frage, die im Mittelpunkt einer Vortragsreihe von Hannah Arendt aus dem Jahr 1960 stand. In dem Vorlesung »Some Questions about moral philosophy« beschreibt Arendt, wie eine Gesellschaft, die sich als tragender Teil einer humanistischen Tradition verstand, innerhalb von wenigen Jahren seine ethischen Grundsätze in ihr Gegenteil verkehren kann. Arendt stellt die Frage, aus welchen Motiven die Wenigen, die sich gegen diese Verkehrung immun zeigten, lebten und handelten.
Arendt: Ein Beispiel aus den Erfahrungen, die wir in jüngerer Zeit gemacht haben, veranschaulicht diesen Punkt. Wenn Sie sich die Wenigen, die sehr Wenigen, die im moralischen Zusammenbruch von Nazi-Deutschland vollkommen heil und schuldlos blieben, näher ansehen, werden Sie entdecken, daß diese nir so etwas wie einen großen moralischen Konflikt oder eine Gewissenskrise durchgemacht haben. (…) sie fühlten keine Verpflichtung, sondern handelten im Einklang mit etwas, daß für sie selbstverständlich war, auch wenn es für diejenigen um sie herum nicht merh selbstverständlich war. Ihr Gewissen, wenn es das denn war hatte keinen zwingenden Charakter: es sagte: ›Das kann ich nicht tun‹, anstelle von: ›Das darf ich nicht tun‹
(Aus: Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik Some Questions of Moral Philosophy. Vorlesung an der New School of Social Research, New York, 1965)
(6) Ein Gedicht von Catharina Regina von Greiffenberg
Mit Hinweisen in dem Gedicht Über das Unaussprechliche Heiligen Geistes Eingeben der österreichischen Dichterin der Barockzeit, einer protestantischen Mystikerin und ›Exulantin‹ in Österreich, wird das Komplement von Unerkennbarkeit und wesentlicher Erfahrung poetisch gespiegelt.
In den bildhaften Paradoxa:
Du ungesehner Blitz, du dunkel-helles Licht,
Du herzerfüllte Kraft, doch unbegreiflichs Wesen!
– fasst die Dichterin das Komplement gleich in den ersten Zeilen im Bild einer ›Syngenia‹, im Gegenüber einer Wesenseinheit. Greiffenberg betont die Erfahrung als ein Erkennen in der Substanz selbst, als eine Atem-Kraft, als ein Erkennen im Erz-Sein-selbst:
Die Seel ist von sich selbst nicht also löblich licht.
Es ist ein Wunder-Wind, ein Geist, ein webend Wesen,
Die ewig Atem-Kraft, das Erz-Sein selbst gewesen,
Das ihm in mir entzündt dies himmel-flammend Licht.
(7) Ermunterung. Ein Gedicht von Friedrich Hölderlin
Auch Hölderlin eröffnet sein Gedicht mit dem Bild einer Syngenie.
Echo des Himmels! heiliges Herz! warum
Es ist einer Erfahrung der Teilnahme in der Verwandschaft, ja dem Eins-Sein vom Innersten und Umgreifenden. Eine Kultivierung dieser Erfahrung als Grund einer Überlieferung allerdings, scheint ihm in der anbrechenden Moderne verloren:
Warum verstummst du unter den Lebenden,
Schläfst, freies! von den Götterlosen
Ewig hinab in die Nacht verwiesen?
Doch wie Catharina von Greiffenbergs weist auch Hölderlin auf eine substanzielle und so stets wirksame, unhintergehbare Erfahrung:
(…)
Und stillebildend weht, wie ein kahl Gefild,
Der Othem der Natur dich an, der
Alleserheiternde, seelenvolle.
Für Hölderlin prägt sich ein Lebensgefühl und somit eine Überlieferung aus dieser der mystischen Perspektive sowie ihrer poetischen Ermutigung:
Beim Jova! bald, bald singen die Haine nicht
Des Lebens Lob allein, denn es ist die Zeit,
Daß aus der Menschen Munde sie, die
Schönere Seele sich neuverkündet,
Immer wieder weist Hölderlin in seinen Werken, in Lyrik und Prosa auf die poetische Schönheit und Dringlichkeit von Überlieferung hin, sowie auch auf die Aufgabe einer poetischen Tätigkeit in diesem Sinne:
Im Menschenwort, am schönen Tage
Kommenden Jahren, wie einst, sich ausspricht.
Auch Hölderlin betont das Substanzielle, bis hin zu dem Verantwortungsgefühl einer Ausgestaltung der physischen Welt nach der Ausrichtung des Menschen in seiner Wahrnehmung der transzendenten Perspektive. Dass sich eine dergestalt poetisch ermutigte Kultur bis in die physische Welt ausprägt, ist, in Hinsicht auf die enormen Auswirkungen des menschlichen Handelns auf die Lebensgrundlagen und Landschaften, evident.
Dann liebender im Bunde mit Sterblichen
Das Element sich bildet, und dann erst reich,
Bei frommer Kinder Dank, der Erde
Brust, die unendliche, sich entfaltet
(8) Mit einem Text von Friedrich Nietzsche
In einer Textfolge aus der Fröhlichen Wissenschaft und dem Nachlass beschreibt Nietzsche, der ›Umwerter aller Werte‹ den Bedeutungsverlust der kanonischen Traditionen zunächst als einen dramatischen Kulturbruch und essentiellen Verlust: Haben wir denn das Meer augetrunken …
Er beschreibt dann eine Entwicklung bis hin zu Zuständen, die, im Wissen um das spätere Geschehen, als eine beklemmende Prophetie erscheinen: das Zulaufen auf eine entleerte Kultur, bis hin zu einer Logik des Schreckens. Der Mensch der Moderne, in seinem Selbstbewußstein von Säkularisierung und Aufklärung, glaubt sich in der Überwindung obskurantischer Formen auf einem guten Wege, zehrt aber eigentlich immer noch von den Quellen der überlebten Formen und läuft, aus fälschlichem Glauben eigener Kraft und dem folglichen Mangel einer neuen, eigenen Überlieferung auf eine Katastrophe, den Strömungsabriss einer wesentlichen Kultur, den Verlust grundlegender ethischer Motive und Lebensformen zu.
Im Sinne eines freien Geistes aber entwirft er gleichwohl das Bild einer neuen, offenen Form von Überlieferung auf. Auch in seiner Projektion eines nunmehr offne[n] Meer[s] lässt einen Horizont erkennen.
(9) Eine Sentenz aus Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland
Der von Nietzsche bewunderte Heine hat ein ähnliches Gespür, ein seismografisches Talent, eine olfaktorische Begabung wie Nietzsche – eine Nase für kulturelle Überlieferungen und mentalitätgeschichtliche Entwicklungen. Sein Text Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, im französischen Exil zunächst für das französische Publikum geschrieben, wurde von den Größen der damaligen Historikerzunft rundweg abgelehnt. Dabei zeugt Heines Analyse von einem genauen und feinen Sinn für die Dinge, auch gewonnen aus den Erfahrungen seiner unmittelbaren Umgebung, persönlichen Begegnungen etwa mit Hegel und den Gestalten der 48ger Revolution. Er greift den Gedanken Nietzsches von übereinander gelagerten Schichten von Überlieferungen auf, beschreibt ebenso den Bedeutungsverlust der christlich-jüdischen Kultur im Bild des zähmenden Talismans, dem morschen Kreuz, und das Wiederaufkommen der steinernen Götter (…) die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen, eine germanische Barbarei, die eigentlich nie wirklich überwunden wurde. Wie Nietzsche steht eine Prophetie am Ende seiner Überlegungen, eine im späteren Wissen des Geschehnen erschütternde Prophetie aus dem Jahr 1835, die aus Heines hellsichtiger Darstellung der kulturellen Schichten und Überlieferungen allerdings durchaus vorhersehbar erscheint: Es wird dein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte …
(10) Eine Elegie von Xenophanes von Kolophon
Der zehnte Beitrag und – vorerst – letzte Beitrag in der Videoreihe zur Frage der Überlieferung und Tradierbarkeit in der Moderne: Die Erläuterung einer Elegie von Xenophanes von Kolophon bietet eine Fülle von Einsichten. Etwa zum Aufkommen eines freien Geistes als Grundlage einer wissenschaftlichen Methodik in als Teil vorsokratischen ›Naturphilosophie‹.
Es ist eine in hohem Maß multikulturelle Umgebung, in der der bis in unsere Zeit maßgebende Aufbruch gerade geschehen kann. Im Vergleich der Götterbilder und religiösen Bilder zwischen den aus der ganzen damaligen Welt zusammengekommen Hafenbewohnern an der kleinasiatischen Küste, relativieren sich die regionalen Absolutheiten. Nach dem Bedeutungsverlust der antropomorphen Götterbilder wird die Bühne frei für naturhaft-wilde Spekulationen, und schließlich für die Vorstellung eines unfassbaren und universalen Prinzips, einem Unum des Seins. Es ist dies die freie Bühne des Geistes, auf der sich, wie Karl-Raimund Popper der Übersetzer der Elegie meint, erstmals eine wissenschaftliche Methodik des kritischen Rationalismus aus der Anerkennung des Unfassbaren entwickelt.
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