Jan Christ

Christian Hoffmann wuchs während des Zweiten Weltkriegs in Polen und nach 1945 in Ostdeutschland auf. In der DDR arbeitete er als Schauspieler und Buchhändler. 1957 verliess er die DDR und ging nach Westdeutschland. In der Bundesrepublik absolvierte er auf dem zweiten Bildungsweg an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen ein Studium der Pädagogik. Von 1962 bis 1974 war er im niedersächsischen Schuldienst beschäftigt.

Seit 1974 ist er unter dem Pseudonym Jan Christ freier Schriftsteller und veröffentlicht erzählende Werke, Hörspiele, Lyrik und Theaterstücke. Neben diversen Autorenstipendien erhielt Jan Christ 1986 den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg.

Waren seine frühen Werke durch gesellschaftskritische Themen gekennzeichnet, so zeigen die neueren Werke experimentellen Charakter und unterliegen einer kontroversen Rezeption. „Die Literaturkritik zeigt sich unentschlossen, wie sie sich auf das literarische Wagnis seiner Texte einlassen sollte.“[1]

Als sein Debüt „Asphaltgründe“ (1976) erschien, war er 42 Jahre alt und hatte bereits 12 Jahre als Grundschulpädagoge gearbeitet. „Asphaltgründe“ erschien, mit dem Zusatz „Erzählungen“ versehen, in der renommierten Rowohlt-Reihe „das neue buch“, die für
Christ ein ideales Forum bot, war sie doch extra für literarisch innovative Werke eingerichtet worden.
„Asphaltgründe“ umfasst vier Kurzerzählungen: „Das Hofleben eines Hannes W“, „Der kleine Sizilianer tritt auf“, „Ein Migg bleibt ein Migg“ und „Wie der Dachbesteiger vom Dach kommt“. Alle bespielen denselben Schauplatz, nämlich den Pausenhof einer Grundschule, dessen „struggle for life“ mit seinen „darwinistischen Mechanismen“ (Ludwig Harig) sie episodenhaft verfolgen: Es wird über Springseile gehüpft, der Asphalt bekritzelt oder das Schuldach bestiegen. Eine mafiose Schülerbande geht gegen die „Eckensteher“ vor, verteidigt die Treppen wie „Festungen“ und foltert ihre Gefangenen. Von Zeit zu Zeit tritt der Schulleiter Stumpfnegger dazwischen und maßregelt einige Schüler, vor allem diejenigen, die eigensinnig bleiben und deshalb rebellisch wirken. In jeder Teilerzählung übernimmt ein anderer Schüler den Part des Rebellen. Den Anfang macht der „flachgewachsene Käsling“ Hannes W, der als „Asphaltmaler“ und „Schneemensch“-Erbauer zu brillieren weiß. Nach ihm hat der Sizilianer Guido, als Ritter verkleidet und mit einer Kindertrommel ausstaffiert, seinen Auftritt, der jedoch von einer ihr Kind hysterisch vermissenden Mutter gestört wird. Ihm folgt der wilde Waise Migg und präsentiert die schwärende Wunde seines Hundes. Zuletzt zeigt sich der grasdürre Bernd und muss, von etwas Diffusem umgehauen, auf einer Bare in die Schulleiterstube getragen werden. Ihnen allen gilt das Verdikt, das Stumpfnegger über Hannes W zu fällen weiß: „Hannes W, der sei einer, wie bisher noch niemand gewesen sei, überhaupt noch niemand, solange die Schule bestehe, und, das müsse er wissen, wissen endlich, daß diesem nicht zu helfen sei.“
Der Schauplatz selbst erscheint als ein sich selbst steuerndes und erhaltendes System, als ein Gewoge und Gewebe von „Spielverläufen, Ballwegen, inmitten von Gefechten, Handlungen, Händeleien, wo Kriegszustände andauerten, wo viele Kriege gleichzeitig und sich kreuzten, ein Schneidewerk bildeten, aber jeder seinen Krieg hatte und seinen Feind“.

Asphaltgründe“ versammelt bereits alle Momente, die auch die folgenden Werke prägen werden. Jan Christs Interesse gilt durchweg demselben sozialen Typus: dem latent diffamierten, aber künstlerischwertvollen Außenseiter. Ob er nun als Grundschüler oder kriegsbedingt Vertriebener („Der Morgen auf dem Lande“, 1980), ob er als Hellseherin („Anna Wentscher“, 1995) oder Schriftsteller („Kleist fiktional“, 1999) erscheint – stets eignet ihm eine impulsive schöpferische Beweglichkeit, der sich die Prosatexte vorbehaltlos überlassen. Von ihr erhalten sie ihren narrativen Schwung, mit ihr verhelfen sie den Außenseitern zu einer Würde, die ihnen im Sozialen vorenthalten bleibt.

Ihre eigenwillige Integrität stört nämlich die sozialen Getriebe und löst Repressionen aus, die sie auf das Maß des Etablierten bringen sollen. Allerdings lässt Christ die Außenseiter und die Etablierten weder gesellschaftskritisch noch moralisch entrüstet noch hochdramatisch aneinandergeraten. Vielmehr halten die Prosatexte das eine Spannungsniveau, das sie von Beginn an aufgebaut haben, ohne das Geschehen nach Höhen und Tiefen, nach Gut und Böse zu evaluieren. Christs Werke haben allesamt einen stark autobiografischen Grundzug.

Die Zeit nach seinem Debüt nutzte Jan Christ für gezielte empirische Studien. Er betätigte sich als reisender Reporter und kundschaftete milieu- oder berufsbedingte Sprach- und Lebensformen aus. Ein Ort, wo er sich über Jahre regelmäßig aufhielt, war der Hamburger Fischmarkt. Dort nahm er die Rufe der Marktschreier auf Tonband auf und nutzte das Material als Quelle der Inspiration: „In diesem Zwischenraum zwischen dem Ausgesprochenen und dem noch nicht Formulierten entsteht so ein unheimlicher Initialraum, und in dem halte ich mich mit Vorliebe auf.“ (Christ im Interview mit Mitarbeitern des Schauspielhauses Bochum) Die Kalkulierbarkeit unserer Beziehungen im Normalen, die werden so leer und so nichtssagend, während man in diesen Beziehungen (…) gerade das bekommt, was man in den normalen Beziehungen vermißt, nämlich noch Spontaneität, plötzliche Zuwendung, plötzliche Abwendung, Schwierigkeiten, die einem bis in den Traum verfolgen.“

1979 sowie 1983 nahm er am Wettlesen in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann Preis teil.

Jan Christ hat an 27 Orten in Deutschland gelebt, seit 2005 lebt er stetig in Berlin.

Foto: Bettie I. Alfred

 

Hörstücke (Auswahl)

„Warum sich der Lehramtskandidat erst um das Lehramt bewirbt und sich dann zurückzieht.
Funkmonolog“. Sender Freies Berlin. 1976.
„Mann Kreidler. Funkmonolog“. RIAS Berlin. 1978.
„Geh’n wir die Hunde bewegen oder Brokdorfgespräche“. Radio Bremen. 1979.
„Der Landschaftsunternehmer. Funkmonolog“. Sender Freies Berlin. 1986.
„Marie von Kleist im Gespräch mit ihrem Vetter Heinrich. Funkmonolog“. Österreichischer Rundfunk.1987.
„Gleisballade“ Hörspiel mit Musik, Sender Freies Berlin. 1989.
„Orphyreus oder die Vorstellung von der unendlichen Bewegung“Sender Freies
Berlin. 1990.
„Das Feuerwerk oder Bismarck vor Paris“. Westdeutscher Rundfunk. 1991.

Ab 1. September bei onomato erhältlich:

Nachtzug
Ein Hörspiel von Jan Christ und Henk Nuwenhoud
Kunstradio, Ö1, Ursendung 28.12.1989

12,00  inkl. MwSt., zzgl. Versandkosten

Cover-Gestaltung: Bettie I. Alfred

Ganz der Eisenbahn hat sich das Stück „Nachtzug“ verschrieben. Eine Radio-Version der Performance „Railway/Gleiskörper“ von Jan Christ und Henk Nuwenhoud. Christ fungiert dabei als Sprecher seiner eigenen Texte, während Nuwenhoud, ihn an einem selbstgebauten Instrument mit Rhythmen und Klängen, die dem Thema „Eisenbahn“- angepaßt sind, unterstützt. In diesem-Radiostück tritt die Gleichberechtigung von Wort und Klang noch weit deutlicher hervor als in der Performance und wird auch noch durch den Einsatz von Eisenbahngeräuschen unterstrichen.